Amazon als Sklavenhalter, Neonazis als "Security", oder nur Skandaljournalismus?
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scrub schrieb:
Alles eine Frage der Darstellung, denn zu Anfang des Films heißt es doch: "Was die hier (die ausländischen Saisonarbeiter) in drei Monaten verdienen, ist zuhause in etwa ein Jahresgehalt" - das sind auch für Deutsche gute Bedingungen.
+1. Mein Skandalometer springt ebenfalls nicht an, weder beim Spargel noch bei amazon.
Um das mal auf Deutsche Verhältnisse zu übertragen: Jemand bietet dir an, dass du drei Monate in einer südamerikanischen Goldmine zu schuften. Anreise; Unterkunft und Essen (2 Sterne Niveau); sowie Transport vor Ort sind bereits organisiert. Lohn für die drei Monate: 75.000€. Danach wird deine Rückreise nach Deutschland organisiert und du wirst entlassen.
Gutes oder schlechtes Angebot?
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10 Stunden pro Tag
4,5-5 Euro pro Stunde
Unterbringung ebenso in MehrbettzimmernHört sich nach McDonalds, Tankstellen Mitarbeiter oder nach Pizzafahrer an.
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Ich halte das Angebot für Mist, aber ich könnte jeden verstehen, den das Geld lockt. Ich verstehe ja auch die Saisonarbeiter hier.
Das ändert nichts daran, daß die Bedingungen bei Amazon (bzw. deren Schergen) ziemlich beschissen sind.
Bitte ein Bit schrieb:
Hört sich nach McDonalds, Tankstellen Mitarbeiter oder nach Pizzafahrer an.
Äh... ja.
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Rechnet doch mal von der anderen Seite durch:
Familie mit 2 Kindern, Mindestwohnungsgröße sehe ich da bei rund 70m² (ist aber immer noch winzig, eigene Zimmer für die Kinder gehen sich da wohl nicht aus). Preislich liegt das hier in Wien in einem miesen Bezirk bei ca. 750€/Monat. Dazu kommen sicher nochmal 150-200€ Heizung und Strom, dazu sicher nochmal 60€ für 4x Telefonie und Internet. Dazu Lebenserhaltungskosten, Versicherungen, (nicht einmal Fernsehen oder ein Auto - Substandard). Da sollten es für die Familie schon absolutes Minimum 1600€ Netto sein. Der Staat sagt in Österreich: € 1451 Mindesteinkommen. Sollte sich mit Müh und Not ausgehen.
Gibt es soetwas in Deutschland gar nicht? Wie soll ich denn mit 50€ pro Tag das erreichen können (Stundenlohn 5€ * 10 Stunden, siehe Zitat oben)? Ich nehme mal an 5-Tage-Woche (was anderes wird wohl eh nicht erlaubt sein), 5 * 4,5 Wochen = 22,5 * 50 = €1125 BRUTTO - da bleiben Netto ja niemals nie 1600€ übrig.
Bezieht Deutschland bereits seinen Wohlstand aus der Sklavenhaltung?
MfG SideWinder
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Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber die Argumentation dass diese Pseudo-Sklaven ja hier immernoch mehr verdienen als zu Hause finde ich auf Anhieb, ohne Energie in belastbare Argumentation gesteckt zu haben, schon sehr fies. Mit der einen Hand hält man das Land unter Wasser und mit der anderen Hand zieht man ein paar Leute raus und gibt ihnen etwas Brot und 10% mehr Gehalt als sie zu Hause bekämen, damit sie hier unter denselben Verhältnissen malochen, die wir selber als unwürdig bezeichnen würden. Ich kann damit irgendwie kein fehlendes schlechtes Gewissen rechtfertigen.
Edit: und ich bin offen genug um zuzugeben, dass ich ohne die Angenehmlichkeiten unseres relativen Reichtums auch nicht mehr ohne widerwillen könnte. Ich wurde sozusagen gefühlt zum Ausbeuten angefixt, noch bevor ich denken konnte. Fällt natürlich immer leicht, die Verantwortlichkeit von sich zu weisen, seht ihr
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Decimad, diese Diskussion und ihre darunter liegende Frage ist so alt wie es heterogene Resourcenverteilungen gibt.
Die Beispiele auf dieser Welt sind ja noch gravierender: nehmen wir das Thema der Lohnsklaven in Bangladesch, die unsere Kleidung nähen. Es gibt eine Fraktion, die dort höhere Löhne und bessere Bedingungen durchsetzen will. Aber eine andere Fraktion zeigt auf, daß die schlechten Bedingungen bereits das Leben der Leute verbessert haben - bei besseren Bedingungen wäre das Land aber gar nicht attraktiv (im Ernst: wer würde schon freiwillig ein Sourcingprojekt in Bangladesch durchführen?). Ähnlich sind teilweise Schutzprogramme gegen Kinderarbeit rückgeschlagen - vorher haben in den Firmen Kinder gearbeitet, aber gegen Geld. Man hat das unterbunden - und damit die Familien in Not gestürzt, die von dem Geld der Kinder abhängig waren. Und die Kinder mußten sich in völlig unregulierte Sklaverei begeben, wurden verkauft, etc.
Betrachtet man diese Gefälle überregional, gibt's nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Ich war vor Jahren in Nordindien Richtung Kashmir bei einem Fabrikprojekt, und dort haben Frauen für den Hof Zement geschleppt. Die Babys lagen neben den Zementmischern im Schatten, aufgepasst haben die mittelalten Kinder, die noch nicht groß genug waren zum Zementschleppen.
Ziemlich geschockt habe ich den Fabrikchef gefragt, was er dazu meint - und er sagte, es sei gut daß sie hier die Fabrik bauen - immerhin haben diese Frauen nun etwas Geld verdient. Ohne die Fabrik und den Zement hätten sie gar nichts, wie sollen sie dann die Kinder ernähren?
Unterbindest Du also eine menschenunwürdige Tätigkeit, die dabei für die Menschen bereits eine Verbesserung gegenüber ihres Normalzustands darstellt? Lieber geregelte Tätigkeitsverhältnisse, dafür keinen Job?
Schwierig, schwierig.
Das ist ja auch das Thema mit H4 - für "uns" Normalos ist das wenig Geld, kaum vorstellbar wie man über die Runden kommen kann. Wenn jemand aber aus einem Land kommt, wo er bei vielleicht halb so hohen Lebenshaltungskosten mit 100 EUR und 2 Kindern pro Monat überleben muß, für denn sind 800 EUR bei doppelt hohen Lebenshaltungskosten Luxus. Und wenn man zuhause mit 8 Leuten in 2 Zimmern wohnt, sind dann 4 Leute in 3 Zimmern auch eine Verbesserung - für mich aber immer noch Horror.
Die gute Nachricht ist vermutlich, daß in all den Ländern, wo Industrie aufgebaut wird, letztlich die Löhne und Gehälter steigen und sich die Einnahmebasis verbreitert.
Die schlechte Nachricht ist allerdings, daß dadurch langfristig für uns alle Produkte teurer werden, und jeder, der bei uns heute finanziell an der "Klippe" steht darüber fallen wird, weil er sich immer weniger leisten kann.
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SideWinder schrieb:
Gibt es soetwas in Deutschland gar nicht? Wie soll ich denn mit 50€ pro Tag das erreichen können (Stundenlohn 5€ * 10 Stunden, siehe Zitat oben)? Ich nehme mal an 5-Tage-Woche (was anderes wird wohl eh nicht erlaubt sein), 5 * 4,5 Wochen = 22,5 * 50 = €1125 BRUTTO - da bleiben Netto ja niemals nie 1600€ übrig.
Die Leute die das machen sind oftmals aus 4 Gruppen:
- Nebenjobber, die das auf Minijob o.ä. machen, so daß das steuerfrei nebenher ist - weil das normale Gehalt nicht reicht
- Schüler/Studenten
- "Aufstocker", die bekommen dann vom Staat noch Zulagen
- "Doppelverdiener", d.h. beide haben so einen Job, wodurch sich die fixen Ausgaben halbieren
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Danke Marcus für Deine Ausführungen. Ich wollte hauptsächlich darauf hinweisen, dass es zwei unterschiedliche Dinge sind, was für das betroffene Individuum gerade das Optimum darstellt und was "moralisch gerecht" ist und vor allem keines von beidem das andere impliziert. Damit wollte ich hauptsächlich die Argumentation "Ihm geht es ja so besser, also ist die Situation gut so", die hier und eigentlich auch überall sonst in vielen Beiträgen zutage tritt, etwas ins richtige Licht rücken.
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Gibt es soetwas in Deutschland gar nicht? Wie soll ich denn mit 50€ pro Tag das erreichen können (Stundenlohn 5€ * 10 Stunden, siehe Zitat oben)? Ich nehme mal an 5-Tage-Woche (was anderes wird wohl eh nicht erlaubt sein), 5 * 4,5 Wochen = 22,5 * 50 = €1125 BRUTTO - da bleiben Netto ja niemals nie 1600€ übrig.
Bezieht Deutschland bereits seinen Wohlstand aus der Sklavenhaltung?
Nö, aus der Schwarzarbeit...
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SideWinder schrieb:
Gibt es soetwas in Deutschland gar nicht? Wie soll ich denn mit 50€ pro Tag das erreichen können (Stundenlohn 5€ * 10 Stunden, siehe Zitat oben)? Ich nehme mal an 5-Tage-Woche (was anderes wird wohl eh nicht erlaubt sein), 5 * 4,5 Wochen = 22,5 * 50 = €1125 BRUTTO - da bleiben Netto ja niemals nie 1600€ übrig.
Mit einem Tagesschnitt von 10 Stunden kratzt man vermutlich auch wieder an Obergrenzen, ist das überhaupt als dauerhafte durchschnittliche Arbeitszeit erlaubt? Geh von 168 Stunden pro Monat aus.
SideWinder schrieb:
Bezieht Deutschland bereits seinen Wohlstand aus der Sklavenhaltung?
Zum einen das, zum anderen, wie gesagt: Die Schwarzarbeit hat stetes Wachstum vorzuweisen.
Übrigens, das Problem in Deutschland ist bekanntlich der Spitzensteuersatz.
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SeppJ schrieb:
drei Monate in einer südamerikanischen Goldmine zu schuften.
Sind die Arbeitsbedingungen in südamerikanischen Goldminen mit denen auf deutschen Spargelfeldern zu vergleichen?
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TGGC schrieb:
Sind die Arbeitsbedingungen in südamerikanischen Goldminen mit denen auf deutschen Spargelfeldern zu vergleichen?
Man hätt auch südamerikanische Spargelfelder als Beispiel nehmen können. Aber dann kommt ein anderer Schlaumeier der dann meinen muss dass es bei uns ja auch Spargelfelder gibt und deswegen niemand wegmuss/-darf/-soll; und wieder einem anderen Schlaumeier fällt dann ein dass es da ja keine Spargelfelder gibt und wir doch besser Goldminen nehmen sollten
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scrub schrieb:
Übrigens, das Problem in Deutschland ist bekanntlich der Spitzensteuersatz.
Denke ich nicht mal unbedingt, meiner Meinung nach sind die Sozialversicherungsbeiträge ein grösseres Problem, vor allem gegenüber kleinen Selbständigen. Die müssen überall höhere Beträge als ein Arbeitnehmer zahlen, unabhängig vom Gewinn, da ist doch klar dass die ihre Einnahmen irgendwie schwarz aufpolieren _müssen_.
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Wie kommt man eigentlich auf den Gedanken der Sklavenhaltung?
Von einer richtigen Sklavenhaltung sind wir nämlich noch weit entfernt. Ich meine, wer ist zum letzten mal erschossen worden, weil er seine Arbeit nicht getan hat? Wer wurde das letzte Mal von seinem Besitzer vergewaltigt? Wo ist denn der Arbeitsnehmer das Besitztum des Arbeitsgebers?
Eine überzogene Wortwahl...
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zwutz schrieb:
südamerikanische Spargelfelder
Das ist halt schon wieder was Anderes. Ich wuerde glaube, wenn ich keine andere Arbeit finde fuer 50.000 Euro in ein Land mit Deutschland aehnlichen Arbeitsbedingungen Spargelstechen (gut, ich komme vom Land, vielleicht kommt das auch da her) gehen aber niemals fuer 75.000 in die Goldmine.
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Dann möge man allen Flavourtext aus meinem Beitrag streichen und ersetze "Goldmine" durch "schwere körperliche Arbeit", "Deutschland" durch "Land", "Südamerika" durch "fernes Land", "Euro" durch "Währung", "75.000" durch "mittleres Jahreseinkommen * 3" und so weiter. Außerdem sollte man im Rahmen der Geschlechtergleichstellung sämtliche Wörter geschlechtsneutral forumulieren:
Um das mal auf die Verhältnisse/Verhältnissinnen in anderen Ländern/Länderinnen zu übertragen: Jemand/e bietet dir an, dass du für eine kürzer als übliche Arbeitszeit/in einem fernen Land/in schwere körperliche Arbeit/in verrichtest. Anreise/Anreisin; Unterkunft/in und Nahrung/in (angemessenes unteres Niveau/in des/der eigenen Landes/Landin); sowie Transport/in vor Ort/in sind bereits organisiert. Lohn/in für die oben genannte Arbeitszeit/in: Der/Die dreifache mittlere Jahreslohn/in eines/einer mittleren Arbeiters/Arbeiterin des/der eigenen Landes/Landin in der/dem Landeswährung. Danach wird deine Rückreise/Rückreisin in dein Ausgangsland/in organisiert und du wirst entlassen.
Viel besser.
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@SeppJ: Danke, endlich ist es klar und deutlich lesbar.
@TGGC: Deine Ueberlegung ist nachvollziehbar, aber beruht auch darauf, dass Du vor einem Computer sitzt und nicht vor die Wahl gestellt wirst. Mit 2 kleinen Kindern, Frau und Einzimmerwohnung ohne Heizung kommen Dir die 75k für die Goldmine viel besser vor - trotz der Lebensgefahr. Oder anders: "Nie" kann man sagen solange man nicht vor die Wahl gestellt wird. Deswegen hinkt die Lagebeurteilung immer aus unserer jetzigen Perspektive.
Das stört mich dann auch an so einer Reportage - der Reporter fährt da raus, rechnet seine Spesen ab, wohnt auf dieser Dienstreise nach Bad Hersfeld in einem Hotel mit Einzelzimmer, schreibt evtl sogar die Arbeitsstunden auf und verrechnet die mit seinem Ueberstundenkonto... und ist dann besorgt/empört über AMZN vs DIE SPANIER, wobei der weder Amazon noch die Spanier im Ansatz versteht. Das ist das sogenannte "Scholl-Latour-Problem", viele Reporter berichten über Dinge, ohne vor Ort (nicht nur im räumlichen Sinne) gewesen zu sein, und fertigen wertende Reportagen an. Das war auch bei der ARD-Empörungsreportage zu dem Brand in der Kleiderfabrik in Bangladesch, der Reporter ist eindeutig Business-Class geflogen, das Ticket vermutlich zu 4 oder 5 TEUR. Und baut dann eine Reportage zusammen, wo er sich über die Monatslöhne von 30 EUR empört. Der hat mit seinem Flug einen Gegenwert von über 100 lokalen Monatslöhnen verfeuert, nur damit er bequem sitzen kann.
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scrub schrieb:
SideWinder schrieb:
Gibt es soetwas in Deutschland gar nicht? Wie soll ich denn mit 50€ pro Tag das erreichen können (Stundenlohn 5€ * 10 Stunden, siehe Zitat oben)? Ich nehme mal an 5-Tage-Woche (was anderes wird wohl eh nicht erlaubt sein), 5 * 4,5 Wochen = 22,5 * 50 = €1125 BRUTTO - da bleiben Netto ja niemals nie 1600€ übrig.
Mit einem Tagesschnitt von 10 Stunden kratzt man vermutlich auch wieder an Obergrenzen, ist das überhaupt als dauerhafte durchschnittliche Arbeitszeit erlaubt? Geh von 168 Stunden pro Monat aus.
Hö? Das ist doch noch wenig, das sind doch nur 50 Stunden. 60 sind je nach Branche normal, in Hochzeiten auch >60. Oder sprichst Du davon, dass es irgendwelche Zusatzgelder gibt? Oder von 50h körperlicher Arbeit, die irgendwei gesondert reguliert wird?
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SeppJ schrieb:
...
Jaja, alles ganz lustig, ich habe sehr gelacht. Erstens hast du nicht 100% neutral formuliert, zweitens ist das, was du beschreibst, offensichtlich nicht das, was den Spaniern
bei Amazonbei Amazons Schergen passiert ist.Bevor ich mich ins Flugzeug nach Südamerika setzen würde, würde ich zuhause den Arbeitsvertrag in meiner Sprache kontrollieren. Wenn ich es nicht falsch verstanden habe, sind die Spanier "einfach so" hergekommen und haben hier Sachen unterschrieben, die sie nicht verstanden haben. Das war nicht besonders schlau.
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60h sind sicher nicht normal, das geht nur bei speziellen AllIn-Verträgen. Die normale Wochenarbeitszeit sind laut Kollektivverträgen in Österreich 38,5h und in solchen Kollektivverträgen stecken über 80% der hiesigen arbeitenden Bevölkerung.
Du darfst bis zu 10h am Tag arbeiten, aber alles was über die 38,5h hinausgeht muss in den meisten Kollektivverträgen als Überstunden abgegolten werden. In Hochzeiten darf Mehrarbeit eingefordert werden, aber das ist auch zeitlich begrenzt. Ich nehme mal an im Durchschnitt sind's irgendwo bei 40h pro Woche und Nase.
Wovon du redest Eisflamme sind wohl eher Jobs im Büro bei denen ein Studienabschluss eingefordert wird, da gibt es durchaus All-In-Veträge bei denen die Leute dann ewig im Büro sitzen, aber da reden wir dann ja auch nicht von Stundenlöhnen im Bereich 5-10€ sondern viel mehr von Stundenlöhnen im Bereich >25€.
MfG SideWinder