Integrale richtig lesen



  • Man kann das Lebesgueintegral auch ohne Maßtheorie einführen. Gibt verschiedene Wege dahin.



  • Bashar schrieb:

    Was bedeutet denn Kdm\int_K dm aus maßtheoretischer Sicht? Mir ist diese Schreibweise schon immer suspekt...

    Naja, das ist Physikerschreibweise. Aber irgendwie hab ich gerade mal Lust, das theoretisch mal etwas exakter zu formulieren (einfach weils funktioniert):

    Ich setze mal voraus, dass du aus deiner MINT-Ausbildung die grundlegenden Definitionen der Topologie und Maßtheorie kennst. Wir nehmen mal die Menge KR3K \subseteq \mathbb{R}^3, welcher genau die Menge aller Raumpunkte ist, die unser Körper einnimmt (hierbei vergessen wir natürlich so Sachen wie Atome, wie nehmen wie immer in der klassischen Näherung an, das Universum sei in jeder Hinsicht kontinuierlich). Der R3\mathbb{R}^3 ist in Verbindung mit der Standardtopologie Od\mathcal{O}_d (welcher aus der Standardmetrik d induziert wurde) ein topologischer Raum, ebenso ist dann KK in Verbindung mit der entsprechenden Relativtopologie ein topologischer Raum. Zusammen mit der Borel'schen σ-Algebra ist das dann ein Messraum. Das war trivial.

    Jetzt brauchen wir noch das Maß, das nenn' ich jetzt mal "Dichtemaß" "Massenmaß"

    m:KRm: K \rightarrow \mathbb{R}

    welches jedem Raumpunkt seine infinitesimale Massenzahl zuordnet (okay, das ist mathematisch gelinde gesagt etwas unflätig und leider habe ich in meinem bescheidenen Studium (noch) nichts über 1-Formen gehört, aber ich bin ja auch kein Mathematiker 🤡 werd' ich aber trotzdem nachholen, weil ich mir zu viele Einsichten davon erhoffe). Rein intuitiv ist diese Funktion auch ein Maß, denn m()=0m(\emptyset) = 0, m(iIA_i)=_iIm(Ai)m\left(\bigcup\limits_{i \in I} A\_i\right) = \sum\limits\_{i \in I}m(A_i), kann man schlecht beweisen, aber die addierte Masse von zwei Massepunkten getrennt gewogen ist anschaulich genausogroß wie die Masse von den beiden Massepunkten gleichzeitig gewogen. (klassisches Masseverständnis, kein abgefreaktes Quantengravitationszeug, wo das vielleicht wieder nicht stimmen muss).

    Jetzt hält dich niemand mehr auf, das Integral zu definieren:

    _Kdm=_K1Kdm=m(K)\int\limits\_K dm = \int\limits\_K \mathbf{1}_K dm = m(K), wobei 1K\mathbf{1}_K die Indikatorfunktion ist.

    Scheint also zu klappen.

    Edit: @ Rechendau: All diese Formulierungen dm, dV etc. kannst du scheinbar tatsächlich sauber mithilfe der Differentialformen definieren; sprich das sind tatsächlich alles echte mathematische Maße, siehe hier.

    > Man kann das Lebesgueintegral auch ohne Maßtheorie einführen. Gibt verschiedene Wege dahin.

    Kann man, aber ich finde es äußerst erhebend zu sehen, wie sich aus der Topologie über die Maßtheorie dann die Integration ergibt und sich das ganze Gebäude der Analysis zusammensetzt.



  • Die Erklärung hat leider an der einzigen interessanten Stelle -- die Konstruktion des Maßes -- eine Lücke. Der Rest ist zwar schön aufgeschrieben, aber ziemlich trivial, wenn man die ersten zwei Wochen von Analysis III hinter sich hat.
    Wie sieht m wirklich aus?





  • JFB schrieb:

    Der Rest ist zwar schön aufgeschrieben, aber ziemlich trivial, wenn man die ersten zwei Wochen von Analysis III hinter sich hat.

    Klar ist es großenteils trivial. Aber es soll ja auch nur das Problem des "Massenintegrals" der klassischen Physik und dessen Notation erklären, mehr nicht. Das braucht man in genaueren Theorien auch nie mehr.

    JFB schrieb:

    Wie sieht m wirklich aus?

    Wie m wirklich aussieht? Das weiß wohl nur Gott. Dann musst du gleich mal die Konstruktion über R3\mathbb{R}^3 fallen lassen und einen neuen, diskreten Messraum definieren (mach's so genau wie du willst, addiere über Atome, Quarks (also Zählmaß?), Higgsteilchen oder doch die Planck-Länge?).

    Und selbst dann wird das noch nichts, denn hat man die Natur der Masse schon ausreichend verstanden, um sie in einem Maß auszudrücken? Inklusive, dass das dann verträglich mit Lorentztransformationen ist? Irgendwo hört die Beschreibbarkeit der Natur durch Mathematik immer auf (das irgendwo ist bekanntlich die Grenze der Erkenntnis).



  • Da muss ich JFB leider beispringen, du hast m gleichzeitig als Maß und als Dichte formuliert, das trägt nicht wirklich zur Klarheit bei.

    Die Dichtefunktion ρ:KR\rho : K \to \mathbb{R} kennen wir, und KρdV\int_K \rho dV ist auch klar (einfach das Lebesgue-Integral über KR3K\subseteq \mathbb{R}^3). Das entscheidende ist anscheinend, dass m selbst ein Maß auf R3\mathbb{R}^3 ist, so dass die Masse des Körpers m(K)=Kdmm(K) = \int_K dm ist.

    So einfach, da hätte man eigentlich selbst drauf kommen können 🙂

    Ich kann mich an Erklärungen (Schule, E-Technik-Studium) erinnern, nach denen das ein Grenzwert einer Summe von infinitesimalen Massenelementen sein soll, was bedeuten würde, dass K kein Volumen, sondern eine Ansammlung solcher Massenelemente ist. Das hat mich früher immer verwirrt.



  • > Da muss ich JFB leider beispringen, du hast m gleichzeitig als Maß und als Dichte formuliert, das trägt nicht wirklich zur Klarheit bei.

    Tut mir leid, wenn der Ausdruck "Dichtemaß" so geklungen hat, mir fiel beim schnellen Hinhacken der Erklärung kein besserer Name ein. Er hat per se aber nichts mit der Massendichte zu tun, er weist (wie ich schon oben geschrieben hatte) in so einem Modell einem Punkt/einer Menge eine Massenzahl zu und keine Masse pro Volumen. Ich habe es als "Massenfunktion" und Maß gleichzeitig definiert.

    > Das entscheidende ist anscheinend, dass m selbst ein Maß auf R3 ist, so dass die Masse des Körpers [...] ist.

    😞 Genau das habe ich doch geschrieben.

    > Ich kann mich an Erklärungen (Schule, E-Technik-Studium) erinnern, nach denen das ein Grenzwert einer Summe von infinitesimalen Massenelementen sein soll, was bedeuten würde, dass K kein Volumen, sondern eine Ansammlung solcher Massenelemente ist.

    Nein, K ist immernoch ein Volumen. Beide Herangehensweisen sind vollkommen identisch, wenn du einfach mal auf die Definition des Integrals einer Stufenfunktion schaust: Der Integrand ( = 1 ) ist auch eine Stufenfunktion, denn als Darstellung genügt

    1=n=1N1An1 = \sum\limits_{n = 1}^N \mathbf{1}_{A_n}

    für alle gegebenen Punkte, sofern die AnA_n eine disjunkte Zerlegung von K sind. Das Integral ist dann per Definition

    _Kdm=_i=1nm(Ai)\int\limits\_K dm = \sum\limits\_{i = 1}^n m(A_i)

    Wenn du den Grenzwert der Summe nimmst (also eine immer feinere disjunkte Unterteilung vornimmst), hast du schon die Darstellung mit diesen oft benutzten ominösen "infinitesimalen" Masseelementen Δmi\Delta m_i

    limni=1nm(A_i)=lim_ni=1nΔmi\lim\limits_{n \rightarrow \infty} \sum\limits_{i = 1}^n m(A\_i) = \lim\limits\_{n \rightarrow \infty} \sum\limits_{i = 1}^n \Delta m_i

    Edit: Die Grenzwertbildung ist hier natürlich wieder "sinnlos", aber das liegt am einfachen Integranden, der durchaus komplizierter sein kann. Auch dann bleibt K ein Volumen. Die Notation ist konsistent.



  • Jodocus schrieb:

    > Da muss ich JFB leider beispringen, du hast m gleichzeitig als Maß und als Dichte formuliert, das trägt nicht wirklich zur Klarheit bei.

    Tut mir leid, wenn der Ausdruck "Dichtemaß" so geklungen hat, mir fiel beim schnellen Hinhacken der Erklärung kein besserer Name ein.

    Nein, es ist nicht der Name, du hast m tatsächlich als Funktion KRK \to \mathbb{R} definiert.

    Er hat per se aber nichts mit der Massendichte zu tun, er weist (wie ich schon oben geschrieben hatte) in so einem Modell einem Punkt/einer Menge eine Massenzahl zu und keine Masse pro Volumen.

    Wieso nicht?

    > Das entscheidende ist anscheinend, dass m selbst ein Maß auf R3 ist, so dass die Masse des Körpers [...] ist.

    😞 Genau das habe ich doch geschrieben.

    Ich hab das ja auch von dir.



  • Bashar schrieb:

    Nein, es ist nicht der Name, du hast m tatsächlich als Funktion KRK \to \mathbb{R} definiert.

    [...]
    Wieso nicht?

    Vorsicht, verwechsel' diese "Massenfunktion" m nicht mit der Dichte. Die Dichte kann von Ort zu Ort variieren, deshalb weist man jedem Ort eine Dichte zu.

    Diese Massenfunktion aber weist einem Punkt oder einer Menge von Punkten die entsprechende Masse (also eine Zahl in Einheiten Kilogramm) zu, die an diesem Ort lokalisiert ist. Dass der Definitionsbereich K ist, liegt daran, dass m sonst kein Maß wäre. Ich merke, der Begriff "Dichtemaß" ist katastrophal schlecht.

    Oder anders: m wird als Skalarfeld betrachtet. Wie Druck. Das ist natürlich nicht üblich, macht aber die Notation mathematisch halbwegs konsistent.

    Bashar schrieb:

    Ich hab das ja auch von dir.

    Achso, sorry, das hab ich dann falsch verstanden.





  • Jodocus schrieb:

    Bashar schrieb:

    Nein, es ist nicht der Name, du hast m tatsächlich als Funktion KRK \to \mathbb{R} definiert.

    [...]
    Wieso nicht?

    Vorsicht, verwechsel' diese "Massenfunktion" m nicht mit der Dichte. Die Dichte kann von Ort zu Ort variieren, deshalb weist man jedem Ort eine Dichte zu.

    Diese Massenfunktion aber weist einem Punkt oder einer Menge von Punkten die entsprechende Masse (also eine Zahl in Einheiten Kilogramm) zu, die an diesem Ort lokalisiert ist.

    Maßtheoretisch habe ich 2 Dinge: Erstens ein Maß, das wir hier m nennen. m weist einer messbaren Menge eine Zahl zu. Zweitens eine Dichtefunktion, ich nenn sie mal kurzzeitig f, mit der Eigenschaft _Bfdλ=_Bdm\int\_B f d\lambda = \int\_B dm für jede messbare Menge B. Und dieses f ist genau die Dichte ρ\rho. Oder nicht?

    Dass der Definitionsbereich K ist, liegt daran, dass m sonst kein Maß wäre.

    😕
    Der Definitionsbereich eines Maßes ist eine sigma-Algebra. Also nicht K.

    edit: Rechtschreibfehler



  • Bashar schrieb:

    😕
    Der Definitionsbereich eines Maßes ist eine sigma-Algebra. Also nicht K.

    Ach Mist, sorry jetzt seh ich erst, was du meinst, ich schreibe KK, meinte aber K\mathcal K (bin die Notation (A,A,μ)(A, \mathcal A, \mu) mit (Grundmenge, σ-Algebra, Maß) für Maßräume gewohnt und in Schreibschrift kann ich die irgendwie besser auseinanderhalten).

    Bashar schrieb:

    Oder nicht?

    Völlig korrekt, war eine Schusselei meinerseits.


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